Magnifying Glass
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E.T.A. Hoffmann 
Das steinerne Herz 
Aus ‘Nachtstücke’

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Klassiker aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Germanistik – Neuere Deutsche Literatur, , Sprache: Deutsch, Abstract: Jedem Reisenden, der bei guter Tageszeit sich dem Städtchen G. von

der südlichen Seite bis auf eine halbe Stunde Weges genähert, fällt

der Landstraße rechts ein stattliches Landhaus in die Augen, welches

mit seinen wunderlichen bunten Zinnen, aus finsterm Gebüsch

blickend, emporsteigt. Dieses Gebüsch umkränzte den weitläufigen

Garten, der sich in weiter Strecke talabwärts hinzieht. Kommst du

einmal, vielgeliebter Leser! des Weges, so scheue weder den kleinen

Aufenthalt deiner Reise noch das kleine Trinkgeld, das du etwa dem

Gärtner geben dürftest, sondern steige fein aus dem Wagen und laß

dir Haus und Garten aufschließen, vorgebend, du hättest den

verstorbenen Eigentümer des anmutigen Landsitzes, den Hofrat

Reutlinger in G., recht gut gekannt. Im Grunde genommen kannst

du dies alsdann mit gutem Fug tun, wenn es dir gefallen sollte, alles,

was ich dir zu erzählen eben im Begriff stehe, bis ans Ende

durchzulesen; denn ich hoffe, der Hofrat Reutlinger soll dir alsdann

mit all seinem sonderbaren Tun und Treiben so vor Augen stehen,

als ob du ihn wirklich selbst gekannt hättest. Schon von außen

findest du das Landhaus auf altertümliche groteske Weise mit

bunten gemalten Zieraten verschmückt, du klagst mit Recht über die

Geschmacklosigkeit dieser zum Teil widersinnigen Wandgemälde,

aber bei näherer Betrachtung weht dich ein besonderer wunderbarer

Geist aus diesen bemalten Steinen an, und mit einem leisen Schauer,

der dich überläuft, trittst du in die weite Vorhalle. Auf den in Felder

abgeteilten, mit weißem Gipsmarmor bekleideten Wänden erblickest

du mit grellen Farben gemalte Arabesken, die in den wunderlichsten

Verschlingungen Menschen- und Tiergestalten, Blumen, Früchte,

Gesteine darstellen und deren Bedeutung du ohne weitere

Verdeutlichung zu ahnen glaubst. Im Saal, der den untern Stock in

der Breite einnimmt und bis über den zweiten Stock hinaufsteigt, scheint in vergoldeter Bilderei alles das plastisch ausgeführt, was erst

durch Gemälde angedeutet wurde. Du wirst im ersten Augenblick

vom verdorbenen Geschmack des Zeitalters Ludwig des Vierzehnten

reden, du wirst weidlich schmälen über das Barocke, Überladene,

Grelle, Geschmacklose dieses Stils, aber bist du nur was weniges

meines Sinnes, fehlt es dir nicht an reger Phantasie, welches ich

allemal bei dir, mein gütiger Leser! voraussetze, so wirst du bald

allen in der Tat gegründeten Tadel vergessen. (…)
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Language German ● Format PDF ● Pages 25 ● ISBN 9783640175673 ● File size 0.6 MB ● Publisher GRIN Verlag ● City München ● Country DE ● Published 2012 ● Edition 1 ● Downloadable 24 months ● Currency EUR ● ID 4011015 ● Copy protection without

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